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Es gibt nichts Wahres im Falschen [0] - 22.01.2025
Freya Klier. Eine Bekanntschaft, die mich sehr beeindruckt hat. Sie ist gekommen, um als DDR-Zeitzeuge vor den Teilnehmern der Sommerkurse an der FU Berlin aufzutreten. Ich befinde mich auch unter ihnen. Diese energische Frau mit dem entschlossenen Gesicht ist eine sehr bekannte deutsche Autorin, Regisseurin, Bundestagsabgeordnete und Menschenrechtskämpfer.Eine bunte internationale Schar von Studenten wartet auf ihre Erzählung. Ein Paar Dutzende Augen betrachten die Gekommene. Manche mit Interesse, manche mit Langeweile und schlecht verborgenem Träumen vom heranrückenden Abend, der Tanzen in der Disko und sorglosen Zeitvertreib irgendwo in Berliner Kneipen verheisst. Freya Klier spricht, und die Flut ihrer Worte schwemmt alle Unterhaltungsgedanken weg. Sie erzählt uns über die DDR-Zeiten, nicht wegen der Vergangenheit, sondern wegen der Gegenwart und Zukunft. Damit keine wetere Diktatur an die Macht kommt.
Im Grunde genommen ist die Situation in der DDR den meisten Studenten aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion gut bekannt, weil wir Ähnliches erlebt haben, aber dann kommen interessante und lehrreiche Einzelheiten zum Vorschein. Die DDR-Regierung machte grosse Fortschritte im Aufbau eines neuen sozialistischen Menschen, weil Deutsche von Natur aus sehr gründlich sind. Das Ergebnis dieser Gründlichkeit: die DDR hatte die zweithöchste Selbstmordrate der Welt. Den ersten Platz hatte Ungarn. Die Diktatur umschlang drei Säulen der freien demokratischen Gesellschaft – Jura, Journalismus und Erziehung. Das Lügensystem erzog erfolgreich seinen Nachwuchs, kümmerte sich darum, dass sich niemand nach Westen wandte. Weg durften nur Rentner und Behinderte, weil sie keine Nutzen, sondern nur Kosten bringen konnten. Für mich war auch eine Überraschung zu erfahren, dass die öffentliche Wohlfahrt nur schöner Schein war, z.B. war die Säuglingssterblichkeit damals gering, weil man Kinder mit Wasserköpfen bis zum ersten Lebensjahr leben und danach sterben liess. Die Scheidungsquote lag bei 41%, aber man lieβ sich nicht scheiden wegen (oder dank?) der Wohnungsprobleme, die man im Scheidungsfall bestimmt haben würde.
Eine Umfrage unter deutschen Schülern, die von einer Forschungsgruppe der FU Berlin in 2008 durchgeführt wurde, zeigt, dass die Mehrheit der Befragten eine falsche Vorstellung vom Leben in der DDR hat. Viele sehen keine Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie. Und etwa 60% der Schüler glauben, es habe in der DDR keine Diktatur gegeben und die Leute hätten sich nur an die bestehende Gesellschaftsordnung anpassen müssen, wie es überall der Fall gewesen sei. Die Forschungsergebnisse beunruhigten die Regierungskreise, man glaubt, es ist Zeit, die Lehrbücher der deutschen Geschichte umzuschreiben und im Schulprogramm mehr Zeit der Untersuchung der zweiten deutschen Diktaturperiode zu widmen.
Das Gespräch und angespannte Diskussion danach sind vorbei. Aber ich denke immer wieder an dieses Treffen an der Freien Universität Berlin zurück. Die Geschichte ist lebendig und wenn wir das vergessen, erteilt sie uns bereitwillig eine Lehre. Es gibt vieles zum Überlegen...
Irina Kalacheva
Society |13.02.2009 | Views: 1134
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