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Straffällige Migranten und journalistische Dilettanten: Wie russische Medien das Bild von Migranten prägen - 16.07.2025

(www.totschka-treff.de) Nationalität als „Markenzeichen“

„Der Tadschike, der Schamanow mit seinem MAS-LKW ins Auto gefahren war, versuchte nicht zu entkommen.“ In den Medien wimmelt es von solchen markanten Überschriften. Für die Ermittlungen zum Unfall, in den der Kommandierende der Luftlandetruppen Generalleutnant Wladimir Schamanow verwickelt war, ist die Nationalität des LKW-Fahrers und die Frage der Legalität seines Aufenthaltes wohl kaum von entscheidender Bedeutung. Allerdings standen genau diese Fragen von Anfang an im Vordergrund. Ein solcher Vorfall ist für die Beliebtheit der Migranten nicht gerade förderlich. Im Gegenteil, ihr negatives Image wird dadurch eher verstärkt.

© Dmitrij Winogradow„Ich glaube, dass ein Journalist, der über Terrorakte oder andere kriminelle Ereignisse berichtet, grundsätzlich nicht das Recht hat, Menschen, die eine Straftat begangen haben, mit einer Ethnie gleichzusetzen“, sagt der bekannte russische Journalist Mussa Muradow, Tschetschenien-Korrespondent der Zeitung „Kommersant“ und Direktor der Zeitung „Grosnenski rabotschi“. „Das Wort ‚Tschetschene‘ beispielsweise hat im Journalismus schon fast den Status eines Markenzeichens. Wenn jemand einen Sprengstoffanschlag auf einen Bus verübt, schreibt man nicht, dass ein Terrorist der Täter war oder ein Einwohner von Grosny, man schreibt: ‚Ein Tschetschene hat den Bus in die Luft gejagt‘. Wenn das ein ums andere Mal in der Presse wiederholt wird, so Muradow, dann „wird ohne Zweifel das Verhältnis der Leserschaft gegenüber den Vertretern dieser Nationalität insgesamt beeinflusst“.

Man sollte natürlich die fördernde Rolle der Massenmedien für die stark ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit in Russland nicht überbewerten. Trotzdem zählen Migrantenproblematik, Beziehungen zwischen den Nationalitäten und Fremdenfeindlichkeit weiterhin zu den für die russische Gesellschaft schmerzlichsten Themen. Dazu genügt ein Blick auf die Ergebnisse der soziologischen Untersuchungen. Natürlich spiegeln sich diese Themen auch in den Medien wider. Von Migranten begangene Straftaten, verschiedene Vorkommnisse und Zwischenfälle mit Migrantenbeteiligung gehören generell zu den Lieblingsthemen in Presse und TV.

Auf Rang zwei rangieren Konflikte zwischen Vertretern unterschiedlicher Nationalitäten, in die Migranten involviert sind. Schließlich avancierte Anfang 2009, mit Beginn der Wirtschaftskrise, die angeblich von den arbeitslos gewordenen Gastarbeitern ausgehende Gefahr zu einem zentralen Thema in den Medien. Einige durchaus prominente Analytiker prophezeiten, dass Russlands Straßen in nächster Zukunft von Tausenden entlassener Bauarbeiter, Hausmeister und Kellner bevölkert werden könnten. Man sagte Hungerstreiks und eine wachsende Zahl der von ihnen verübten Straftaten voraus. Die Behörden zogen allen Ernstes die Möglichkeit einer sofortigen Deportation dieser Arbeitskräfte in ihre historische Heimat in Erwägung. Zum Glück ist nichts von alledem eingetreten und außerordentliche Maßnahmen waren nicht erforderlich.

Was jedoch Berichte über die rechtlose Lage der Migranten angeht, über erschreckende Details ihrer Lebensumstände und Arbeitsbedingungen oder des Arbeitsschutzes, so sind diese in der Presse weitaus seltener anzutreffen. Die Medien beschreiben genüsslich in allen Einzelheiten die Biografien von Skinheads, die Migranten verprügeln oder sogar töten, aber nur sehr selten finden die Lebensgeschichten jener Menschen Beachtung, die in Russland Geld für den Unterhalt ihrer Familie verdienen wollten, der nun der Vater und Ernährer fehlt. Genauso selten veröffentlichen die Medien analytische Materialien, in denen die Bedeutung der Migranten für die russische Wirtschaft und für die demografische Entwicklung sowie ihre Integration in die Gesellschaft beleuchtet werden.

Journalismus mit den Augen von Journalisten gesehen

Josif DsjaloschinskiJosif Dsjaloschinski, der bekannte russische Medienforscher und -theoretiker, gelangt in seinem Buch „Die russischen Massenmedien: Wie ein Feindbild geschaffen wird“ zu folgenden Schlüssen: „Die Mehrheit der Journalisten glaubt aufrichtig daran, dass es aggressive Völker gibt und friedliche. Daran, dass der Islam eine aggressive Glaubenslehre ist. Eine beständig negative Haltung formiert sich gegenüber Aserbaidschanern, Armeniern, Georgiern und Chinesen.“ Dabei stützt sich der Wissenschaftler auf die Ergebnisse einer großangelegten Umfrage unter Journalisten und eine Untersuchung von Zeitungstexten in 29 russischen Regionen, die er selbst begleitet hat.

„Circa 40 % der in den Medien veröffentlichten Texte enthalten deutlich intolerante, mitunter äußerst aggressive Äußerungen“, stellt der Autor fest. Dsjaloschinski belegt mit Beispielen, dass die Journalisten zum Teil selbst der Meinung sind, die russische Presse propagiere Extremismus und Gewalt. Diese Ansicht äußerten 22,4 % der Befragten.

Zudem zeigen die Ergebnisse einer im Auftrag des Unabhängigen Instituts für Medienwissenschaften durchgeführten Umfrage, dass die Befragten in der „massiven Propagierung von Aggressivität und Fremdenfeindlichkeit seitens der Massenmedien“ eine der Hauptursachen sehen, die neben dem krassen Absinken des Lebensstandards und des gesunkenen Bildungs- und Kulturniveaus der Bevölkerung für das hohe Maß an Intoleranz in Russland verantwortlich sind.

Im Visier des Internets

© seligirl.livejournal.comZur Entlastung der Journalisten kann man im Übrigen auch mehrere wichtige Argumente ins Feld führen. In der russischen Internet-Community und der russischen Gesellschaft insgesamt spielen nationalistische Stimmungen eine spürbare Rolle. Im russischsprachigen Internet findet die „Einheitsfront“ der Menschen mit nationalistischer Gesinnung ihren Ausdruck meist in Folgendem: Sie machen Jagd auf diejenigen, die um eine objektive Klärung von Nationalitätenkonflikten bemüht sind, und setzen verschiedene Storys PR-wirksam in Szene, die Migranten in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen. Die Beteiligten solcher Aktionen mutieren unverzüglich zu Helden des nationalen Widerstandes gegen die „schleichende Okkupation russischer Städte“.

Peinlich genau wird die nationale und religiöse Identität von Journalisten analysiert: die Nationalisten werfen ihnen häufig Russenfeindlichkeit vor oder von der „freimaurerischen Weltverschwörung“ beziehungsweise der „jüdischen Verschwörung“ gesteuert zu sein.

Es verwundert nicht, dass jeder Journalist sich deshalb ganz genau überlegt, in welcher Form er über dieses oder jenes Ereignis berichtet, denn auf die Unterstützung der Rechtsschutzorgane, an die man sich wenden könnte, wenn Druck ausgeübt wird, ist kein Verlass. Über finanzielle Mittel für den Schutz ihrer Journalisten verfügen die Redaktionen in der Regel nicht, und in der professionellen Zunft der Journalisten herrscht auch keine Einigkeit.

Was kann man nun tun? Natürlich muss etwas unternommen werden, um die Professionalität der Medien-Mitarbeiter zu verbessern und die Journalisten selbst zur Toleranz zu erziehen.

Sulijeta Kussowa„In Kreuzworträtseln, die in verschiedenen Publikationen erscheinen, wird häufig Folgendes gefragt: „kaukasischer Terrorist des 19. Jahrhunderts“, „Bandit aus einem Aul (Bezeichnung für Siedlungen im Nordkaukasus und in Mittelasien d. Übers.)“. Als Lösung wird erwartet „abrek“ wobei „abrek“ in Wahrheit nichts anderes ist als ein russischer Bogatyr (Recke in der russischen Sage d. Übers.)“, sagt Sulijeta Kussowa, Präsidentin der Assoziation für ethnische Journalistik und bringt ein weiteres Beispiel: „Religion, die zur Aggression neigt“ – die richtige Antwort lautet Islam. Kreuzworträtsel mit solchen Fragen wurden unter anderem in den Kinderzeitschriften „Igrat“ und „Swoi rebjata“ veröffentlicht. Man sagt, man müsse das Problem der Toleranz bereits bei Kindern angehen. Wie man sieht, haben wir damit schon angefangen“, sagt Sulijeta mit bitterer Ironie.

Die neue Rolle der Medien

Josif Dsjaloschinski ist der Auffassung, dass sich die Massenmedien von der gewohnten Rolle des Propagandisten oder der unparteiischen Informationsquelle verabschieden müssen. Jetzt, so die Meinung des Theoretikers, besteht die Hauptaufgabe der Medien in der „Organisierung eines Dialogs zwischen den verschiedenen sozialen Kräften“ (unter anderen die Gemeinden verschiedener Nationalitäten und religiöse Konfessionen). „Allerdings sollte das nicht nur eine Plattform sein, wo sich auf Wunsch Vertreter verschiedener Gruppen begegnen, um ihre Beziehungen auszuloten“, sagt Dsjaloschinski. „Die Medien sind ein professioneller Moderator, der es versteht, die Diskussion zu organisieren und dabei hilft, die eigene Meinung präzise zu artikulieren … Ziel der Medien sollte es sein, den sich gegenüberstehenden Gruppen zu helfen, Einigkeit zu erzielen.“

© Nikolaj KhvanIm Übrigen ist es allein mit einer „Toleranzrevolution“ in den russischen Massenmedien nicht getan. Der Anfang muss mit globaleren Zusammenhängen gemacht werden: Die russische Gesellschaft und der Staat müssen sich generell darüber klar werden, ob sie die Migranten brauchen. Welche Rolle spielen sie? Inwieweit sind sie in die Gesellschaft integriert, stellt uns der erreichte Grad der Integration zufrieden und was könnte man diesbezüglich noch tun? Was müsste man zur Festigung des rechtlichen Status von Migranten tun, damit sie nicht zur Einnahmequelle für die Rechtsschutzorgane und zu rechtlosen Sklaven ihrer Arbeitgeber werden? Letztendlich muss man auch unter den Migranten eine gewisse Aufklärungsarbeit leisten, denn ihr rechtswidriges Verhalten, die Missachtung der russischen Gesetze und der Traditionen in der Gesellschaft sind keine Hirngespinste russischer Medien oder von Nationalisten, sondern Realität. Es könnten genau die Medien sein, die der Gesellschaft und dem Staat diese Fragen vorlegen.

Dmitrij Winogradow,
Journalist, Spezial-Korrespondent der Nachrichtenagentur RIA Nowosti in Moskau, Mitglied des Journalistenverbandes Russlands.

Copyright: Goethe-Institut Russland, Online-Redaktion
November 2010

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News |22.11.2010 | Views: 570
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