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Info: Uebergriffe auf Frauen in Tschetschenien - 18.07.2025
Seit einigen Wochen erreichen uns beunruhigende Nachrichten ausTschetschenien. Es wird mit zunehmender Gewalt versucht, eine Kleider-
und Verhaltensordnung für Frauen durchzusetzen. Toleriert von der
Regierung der zu Russland gehörigen Kaukasusrepublik umringen Gruppen
von jungen Männern Frauen auf der Straße, die ihrer Meinung nach
nicht angemessen gekleidet sind, beschimpfen sie und werden in
einigen Fällen auch handgreiflich.
Was als angemessene Kleidung betrachtet wird, war zuvor im Fernsehen
sowie auf in den Straßen verteilten Handzetteln zu erfahren:
Kopftuch, Oberbekleidung, die die Arme bis über den Ellenbogen
bedeckt, lange Röcke. Bereits im Juni wurden aus Autos Angriffe aus
Paintball - Pistolen auf Frauen verübt.
(http://diestandard.at/1277337835668/Tschetschenien-Paintball-
Attacken -auf-nackte-Frauen) Der tschetschenische Präsident Kadyrov
bedankte sich damals in einer öffentlichen Erklärung bei den
Attentätern und bezeichnete unbedeckte Frauen als "nackt".
(http://www.awid.org/eng/Issues-and-Analysis/Library/Chechnya-s-
leader -hails-paintball-attacks-on-women)
Anlässlich des Fastenmonats Ramadan nehmen die Jagd auf Frauen und
der Eingriff in ihre Freiheits// Persönlichkeitsrechte immer
aggressivere Formen an, wie auch Reuters berichtete
(http://www.reuters.com/article/idUSLDE67J13Q). In einer
Presseerklärung des Informationszentrums des Rates der
Nichtregierungsorganisationen der Republik Tschetschenien "WER ist
gegen die Frauen?" vom 20. August 2010 werden die Übergriffe
detailliert beschrieben: "Seit einigen Tagen spielen sich auf den
zentralen Straßen Groznyj Gewaltszenen ab, die man sich vor kurzem
noch kaum vorstellen konnte. Gruppen junger Männer beleidigen,
erniedrigen junge Frauen und Mädchen, die iher Meinung nach "nicht
angemessen gekleidet" sind, und in einigen Fällen schlagen sie sogar
auf sie ein. Das alles fing relativ harmlos an: im lokalen Fernsehen
gab es Hinweise dazu, wie sich tschetschenische Frauen und Mädchen
zu kleiden haben, mit besonderem Augenmerk darauf, dass der für
Muslime heilige Monat, der Ramadan begonnen hat. Danach tauchten auf
Groznyjs Straßen Handzettel mit ähnlichem Inhalt auf, auf denen von
den Vertreterinnen des schönen Geschlechts die Einhaltung von
Anstandnormen gefordert wurde. Nun wurde anscheinend beschlossen,
"von Worten zur Tat" zu schreiten. Man gewinnt den Eindruck, dass bei
uns in der Republik jetzt eine Art "Antiterror-Operation" (KTO)
gegen Frauen anberaumt wurde. Unzählige Augenzeugen und die Opfer
selber erzählen davon, wie Gruppen enthemmter junger Männer im
Zentrum Groznyjs und im Umkreis des Einkaufszentrums "Berkat"
vorübergehende junge Frauen anpöbeln. Frauen, die nicht "richtig"
bekleidet waren, wurden mit Schelte, Vorwürfen und Drohungen
überschüttet. Dabei machte es für die außer Rand und Band geratenen
Halbstarken keinerlei Unterschied, wen sie vor sich hatten: einen
Teenager, die ein eng anliegendes T-Shirt trug, oder eine erwachsene
Frau, die anstelle eines großen Tuches einen Streifen auf dem Kopf
trug. In einigen Fällen wurden die jungen Frauen sogar an ihrer
Kleidung gepackt, festgehalten und dabei ununterbrochen beschimpft
und beleidigt. Eine derartige "Prophylaxe" und Zwang zur
"Sittlichkeit" sollen nach der Idee der Organisatoren dieser Kampagne
anscheinend die Moral unserer Frauen stärken, ihr
Verantwortlungsbewusstsein erhöhen und sie zur Achtung gegenüber der
Religion, den Bräuchen und Traditionen unseres Volkes aufrufen. [...]
Unter den Opfern dieser "Hüter der Moral" sind junge Studentinnen
und eine Ärztin mit langjähriger Diensterfahrung, sind
Mitarbeiterinnen verschiedener Einrichtungen und Behörden. Sie alle
erzählen davon, dass sie durch die Taten der jungen Männer einen
Schock erlitten. [...]" (Übersetzung aus dem Russischen: Andrea
Hapke)
Nachdem diese Presseerklärung erschienen war, wurde im lokalen
Fernsehen eine Warnung an alle ausgesprochen, die Informationen über
die Situation verbreiten. Der Druck wird nicht nur auf die Frauen
ausgeübt. Zunehmend werden auch Männer in der Öffentlichkeit
beschimpft und von ihnen verlangt, dass sie ihre Frauen 'zur Ordnung
rufen'. Gleichzeitig mehren sich die Gerüchte, dass für
unverheiratete Frauen ein Arbeitsverbot erlassen werden soll.
Eingriffe auf die Freiheitsrechte von Frauen haben im
Nachkriegstschetschenien bereits eine lange Geschichte. 2008 wurde
eine Kopftuchpflicht für Frauen und Mädchen ab 6 Jahren in allen
öffentlichen Gebäuden eingeführt. Diese Versuche, eine Genderordnung
zu etablieren und die zunehmende Aggressivität gegen Frauen, scheinen
in einem Zusammenhang mit den durch den Krieg veränderten
Geschlechterrollen und der hohen Arbeitslosigkeit zu stehen. Frauen
sind oft zu den Familienernährerinnen geworden, indem sie im
Dienstleistungsbereich oder auf dem Markt, aber auch in Schulen und
auf Baustellen arbeiten. Die Arbeitslosigkeit betrifft Frauen und
Männer. Jedoch gerät das Rollen- und Selbstverständnis von Männern
stärker unter Druck - was sich auch in einem Ansteigen häuslicher
Gewalt zeigt -, und wird Gewalttätigkeit in einer stark
militarisierten Gesellschaft gefördert. Der Wunsch nach Stabilität
und Ordnung äußert sich u.a. in einer Wiederbelebung und auch
Neuerfindung von Traditionen und der Reglementierung v.a. von Frauen.
Darin wird auch deutlich, wie komplex, gewalttätig und
besorgniserregend die Situation in einer Region ist, die als
'befriedet' gilt und in den deutschen Nachrichten kaum noch
auftaucht.
Unsere Organisationen sind seit mehreren Jahren mit verschiedenen
Projekten in Tschetschenien und im Nordkaukasus aktiv und arbeiten
eng mit Frauenorganisationen vor Ort zusammen. Wir wollen mit dieser
Mitteilung auf die Situation aufmerksam machen und eine
Öffentlichkeit dafür schaffen. Wir sind
sehr besorgt um die nach wie vor tätigen
Nichtregierungsorganisationen in
Tschetschenien, deren Handlungsfähigkeit systematisch eingeschränkt
wird und deren MitarbeiterInnen sich großer Gefahr aussetzen, wenn
sie auf in der Situation agieren.
Andrea Hapke, Katrin Wolf, Heike Pfitzner (Kommunika - Frauennetzwerk
Osteuropa e.V. - www.kommunika-osteuropa.org)
Ute Becker, Heide Göttner (Amica e.V. - www.amica-ev.org)
Marina Grasse, Dana Jirous (OWEN -
Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V.
- www.owen-berlin.de)
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